„Nachdem ich einmal angefangen hatte, gab es kein Halten mehr".

ALLES WAS WAR

LESUNGEN

Stim­men zum Buch:

 

Weih­nach­ten oder Chanukka

Frank­fur­ter Leser ken­nen die­sen Frank­fur­ter Geschich­ten­er­zäh­ler (und Fil­me­ma­cher). Mit sei­nen Roma­nen »Die Teila­cher«, 2010, »Mach­loi­kes«, 2011, und »Herr Klee und Herr Feld«,2013 hat er von Juden erzählt, die sich nach dem Holo­caust (wie­der) in Frank­furt nie­der­ge­las­sen hat­ten, zum Bei­spiel als Teila­cher, das heißt als Wäsche­ver­tre­ter für Weiß­wä­sche. Sie alle spre­chen ein jid­disch ein­ge­färb­tes Deutsch. Vie­le von ihnen ver­fü­gen über den sprich­wört­li­chen jüdi­schen Witz, über Weis­heit und Humor. Und alle tra­gen an der Last, die man deut­sche Schuld nen­nen kann. Sie leben zwar hier, sind aber nir­gends zuhause.
Ein alter Mann, in dem unschwer der Autor zu erken­nen ist, begibt sich an den Ort sei­ner Kind­heit und erin­nert sich, wie er als klei­ner Jun­ge, den Schul­ran­zen auf dem Rücken, aus dem Haus kommt, los­rennt. »Ins Leben. Unbe­schwert. Es ist sein Tag! Wie jeder Tag sein Tag ist.« Er strom­ert mit ande­ren Jun­gen auf Trüm­mer­grund­stü­cken im Frank­fur­ter Westend her­um. Er weiß noch nicht, dass die jüdi­schen Kin­der eine Last zu tra­gen haben: sie müs­sen die Eltern scho­nen. »Die haben viel mit­ge­macht.« Ihm ist noch nicht bewusst, dass »jedes jüdi­sche Kind im Deutsch­land der Fünf­zi­ger … am Rand eines Mas­sen­grabs« auf­wächst, oft ohne Omas und Opas, ohne Tan­ten und Onkels. Berg­mann beschreibt in drei­zehn Kapi­teln das Erwach­sen­wer­den eines jüdi­schen Kin­des im Nach­kriegs­frank­furt. Für Eltern und Kin­der (das ist aus­führ­lich beschrie­ben in der oben erwähn­ten Tri­lo­gie) kei­ne ein­fa­che Zeit. Doch erge­ben sich vie­le anrüh­ren­de, oft auch komi­sche Geschich­ten. Anfangs woh­nen die Eltern mit dem klei­nen Jun­gen in einem ver­las­se­nen jüdi­schen Kran­ken­haus. Frie­da, ein 18 jäh­ri­ges, sehr belieb­tes schle­si­sches Flücht­lings­mäd­chen ist auch dort unter­ge­kom­men. Sie möch­te unbe­dingt Weih­nach­ten fei­ern. Obwohl Cha­nuk­ka aus­ge­rech­net auf den 24.12. fällt, beschließt die jüdi­sche Flücht­lings­ge­mein­schaft, heim­lich für sie ein christ­li­ches Weih­nachts­fest aus­zu­rich­ten, mit Tan­nen­zwei­gen, Ker­zen, Lamet­ta, Geschen­ken. Theo­dor Wie­sen­grund ist sogar »bereit, den Weih­nachts­mann zu geben«. Als sich aber über­ra­schend Rab­bi­ner Rie­sen­feld ankün­digt, wird schnell der Alko­hol ver­steckt und der wun­der­schön geschmück­te Saal in eine »kar­ge Bet­stu­be ver­wan­delt«. Der Mili­tär­rab­bi­ner für die ame­ri­ka­ni­sche Besat­zungs­zo­ne bringt nicht nur vier US-Sol­da­ten, son­dern auch eine Gans mit. Die Fest­ge­mein­de ver­drückt ein­träch­tig die Gans, und alle sin­gen fröh­lich »Oh Tannenbaum«.
Der Jun­ge wird älter, er ver­liebt sich, er wird betro­gen und erlebt sei­nen ers­ten hef­ti­gen Lie­bes­kum­mer, schafft das Abitur mit Ach und Krach, »ver­ach­tet die Bür­ger­lich­keit der sech­zi­ger Jah­re«, »genießt sei­ne Frei­heit«, aber »ver­tut sei­ne Zeit«. Sei­ne ein­zi­ge Ein­nah­me­quel­le: ein ille­ga­ler Spiel­club für die Söh­ne der Neu­rei­chen. Ein­ge­wo­ben in das Leben des Jun­gen sind immer wie­der Gedan­ken über die jüdisch-deut­sche Pro­ble­ma­tik. Durch Bezie­hun­gen wird er Volon­tär bei der »Frank­fur­ter Rund­schau«. Dabei lernt er den tat­säch­lich bewun­derns­wer­ten Gene­ral­staats­an­walt Fritz Bau­er ken­nen. Des­sen uner­müd­li­chen Kampf um den Ausch­witz-Pro­zess, den der jun­ge Jour­na­list vol­ler Lei­den­schaft und Anteil­nah­me ver­folgt. »Gibt es kol­lek­ti­ve Unmo­ral? Kann das mit jedem gesche­hen? …Las­sen sich Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl, Ver­nunft, Moral, Gewis­sen so ein­fach aus­schal­ten wie eine Nachttischlampe?«
Nach dem frü­hen Tod des Vaters führt die Mut­ter den Wäsche­groß­han­del mehr oder weni­ger allei­ne wei­ter, sie hat zwar zwölf Han­dels­ver­tre­ter, aber »das Geschäfts­le­ben und die Tat­sa­che, ins kal­te Was­ser gesprun­gen zu sein, haben sie ver­här­tet«. Als sie wie­der hei­ra­tet, ent­frem­den sich Mut­ter und Sohn voll­stän­dig. Bei ihrer Beer­di­gung begeg­net der Sohn einem alten Freund. Drei­ßig Jah­re lang war der Kon­takt unter­bro­chen. Als sie sich wie­der­se­hen, ist es »wie am ers­ten Tag«. Die­sem Freund ist das Buch gewid­met, eine oft bewe­gen­de Bio­gra­phie, mit zuwei­len eigen­ar­ti­gen Gedan­ken und etwas küh­nen Behaup­tun­gen, etwa Fritz Bau­er sei »Ästhet und Schön­geist, dem man aus die­sem Grun­de homo­se­xu­el­le Nei­gun­gen nach­sagt«. Oder »die deut­schen Kin­der spie­len anders. Der­ber, rus­ti­ka­ler. Wol­len immer Krieg spie­len«. Oder dem Scherz, Ador­no (= Theo­dor Wie­sen­grund) als Weih­nachts­mann zu prä­sen­tie­ren. Hier ist ein drei­fach don­nern­des Hel­au angebracht.
Sig­rid Lüdke-Haertel

Ein jüdi­sches Leben in Deutschland

Unschwer zu erken­nen ist, dass Michel Berg­mann in die­ser ruhi­gen, dich­ten, sehr auf­merk­sam beob­ach­ten­den Erzäh­lung zumin­dest einen Teil sei­ner eige­nen Geschich­te erzählt.
Wie das war, als jüdi­sches Kind in der Nach­kriegs­zei­ten auf­zu­wach­sen, die Bür­de, den Berg der Gräu­el frisch auf­ge­schüt­tet noch vor Augen, die teils tief ver­an­ker­ten Hal­tun­gen in der Bevöl­ke­rung Juden gegen­über viel­fach unge­sühnt mit­ten im All­tag wie­der anzu­tref­fen. Wie eine dunk­le, tief­schwar­ze Wol­ke hängt das Gesche­he­ne über und in der Zeit selbst und wird über Jahr­zehn­te hin­aus (wie die aktu­el­len Ereig­nis­se zei­gen bis in die Gegen­wart hin­ein), Schat­ten werfen.
„Ja, ant­wor­tet der Jun­ge, der nun ein Mann von über fünf­zig Jah­ren gewor­den ist“. Und der dem Leser zunächst im Buch als Kna­be begeg­net mit all den Din­gen, die ein kind­li­ches Her­an­wach­sen aus­ma­chen. Das Spiel, die Schu­le, sei­nen Platz in der Welt fin­den, vor allem mit „den ande­ren allen“.
„Mit dem sper­ri­gen, leder­nen Schul­ran­zen läuft er aus dem Haus. Es ist sein Tag, wie jeder Tag sein Tag ist“.
Ein Auf­wach­sen, ein Leben, das nicht nur von der „gro­ßen“ Ver­gan­gen­heit geprägt ist, son­dern auch in der Gegen­wart durch eine „immer besorg­te“ Mut­ter über­mäch­tig gera­de in die­sen jun­gen Jah­ren beglei­tet wer­den wird. Und ein alter Mann, des­sen Blick eher zufäl­lig aus der Nach­bar­schaft her­aus auf die­sen Jun­gen fällt. Und des­sen „Lebens­weg“ inten­siv mit beglei­tet. Wobei schnell deut­lich wird, dass Berg­mann hier bei­de Rol­len ein­nimmt. Der alte Mann, der auf sei­ne Geschich­te, sich selbst zurück­blickt und die Din­ge des Lebens nun, aus den viel­fa­chen Erfah­run­gen des Lebens her­aus, anders sehen und bewer­ten kann, dem Leser die reflek­tier­te Sicht auf den damals begin­nen­den eige­nen Lebens­weg vor Augen führt. Inner­halb einer jüdi­schen Gemein­de, die „wie­der da ist“, in Tei­len natür­lich. Die nach Holo­caust, unend­li­chen Schre­cken und erleb­tem Hass in Frank­furt sich Schritt für Schritt wie­der ansie­delt. In einer Welt, in der wei­ter­hin gilt:
„Jüdisch zu sein ist eben etwas anders, als katho­lisch oder evan­ge­lisch zu sein. Schon als Kind spürt er das. Das wird blei­ben, bis in unse­re heu­ti­ge, auf­ge­klär­te, digi­ta­le Zeit hinein“.
Fein­füh­lig und viel­fach „sub­ku­tan“ zeigt Berg­mann die­ses „anders sein“ durch die Jahr­zehn­te hin­durch auf, erzählt von dem Ein­druck, dass „der Täter Bewäh­rungs­hel­fer“ ist, wenn Juden von vie­len Sei­ten her immer wie­der sich belehrt fin­det, was es denn heißt, „Jude zu sein“.
Wobei Berg­manns Kunst der ruhi­gen Erzäh­lung vor allem dar­in besteht, dass er die­ses „anders sein“ nicht „laut“ macht, nicht pole­misch in den Raums setzt, nicht ankla­gend vor­bringt, son­dern ste­tig ein­fach auf­zeigt, am All­tag fest­bin­det und die Fol­gen immer wie­der lei­se in den Raum zu set­zen ver­steht. Und auch von der der ande­ren Sei­te ver­steht es Berg­mann eben­falls, vom All­tag zu berich­ten. Von der „Nor­ma­li­tät“ des Lebens, das erst dann hek­tisch ande­res dar­ge­stellt wird, wenn „der Rab­bi“ zu Besuch kommt.
Wie das war, sich in die­sen Jah­ren zurecht zu fin­den, umwäl­zen­de sozia­le Ent­wick­lun­gen mit zu erle­ben, die Last der über­vor­sich­ti­gen, drän­gen­den, stän­dig ver­bes­sern­den Eltern (die Mut­ter im Buch) zu schul­tern, immer wie­der die­se beson­de­re Stel­lung des jüdi­schen Lebens in der wach­sen­den Bun­des­re­pu­blik mit ein­flie­ßen zu las­sen, das liest sich in die­sem schma­len Band ein­fach beein­dru­ckend, ruhig und den­noch nachhaltig.
Eben „alles was war“ für die­se kon­kre­te, per­sön­li­che Leben unter beson­de­ren Vorzeichen.
michael_lehmann-pape